Politiker als Vorbild bezeichnen. Wenigen Menschen fällt das leicht. Und noch weniger Politiker gibt es, die die schwierige Rolle erfüllen, dass sie von Menschen, die sich im Alltag nur kaum für Politik interessieren, als Vorbild gesehen werden. Doch hin und wieder tauchen Staatsmänner in der Geschichte auf, deren politisches Wirken eine derartige Strahlkraft entwickelt, dass sie auch lange nach ihrem Rückzug aus der aktiven Politik den Bürgern dieses Landes in positiver Erinnerung bleiben, weit über alle Parteigrenzen hinaus.
Einer dieser Politiker war Helmut Schmidt. Als er am 10. November 2015 im Alter von 93 Jahren in seiner Heimatstadt Hamburg verstarb, waren die Respektsbekundungen für sein Lebenswerk gewaltig, und das keinesfalls nur aus den Reihen der SPD. Schmidt war zum Zeitpunkt seines Todes das, was man als moralische und intellektuelle Institution bezeichnet, ein Elder Statesman, dessen Sicht der Dinge ernst genommen wurde, auch wenn er sich seit knapp 30 Jahren aus dem tagespolitischen Geschehen zurückgezogen hatte. Und wenn man die Lebensleistungen Schmidts Revue passieren lässt, dann kann man von diesem großen Mann etwas lernen, das gilt nicht für Bundes- wie Lokalpolitiker, sondern auch für den normalen Bürger, politisch interessiert oder nicht. Schmidt verkörperte vor allem zu seiner aktiven Zeit das Bild des Machers, einer Person, die handelt, statt zu zögern, die anpackt, statt durch Zaudern eine Situation außer Kontrolle geraten zu lassen.
Dieses Image erwarb er sich durch sein beherztes Eingreifen bei der Hamburger Flutkatastrophe 1962 und es ist unstrittig, dass der damalige Innensenator Schmidt durch schnelle und mutige Entscheidungen vielen Menschen das Leben gerettet hat. Auch in seiner Zeit als deutscher Bundeskanzler von 1974 bis 1982 hatte Schmidt viele schwere Entscheidungen zu treffen, vielleicht am deutlichsten zu sehen im „Deutschen Herbst“ 1977. Schmidt beschloss, dem Terror der RAF nicht nachzugeben, wissend, dass dies den Tod des entführten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer bedeutet. Das Abwägen von Entscheidungen, bei denen richtig und falsch kaum noch zu trennen sind, gehörte zu seinen größten Stärken, selbst wenn man infolge dessen mit den harten Konsequenzen leben musste. Diese Tugend ist nicht nur in der großen Politik wichtig, sondern sie gilt ebenso für die Lokalpolitik, wie der Vorsitzende der SPD Stammham Wolfgang Köcher bestätigt: „Als Lokalpolitiker kann man von ihm lernen, dass er sich intensiv mit Problemen auseinandergesetzt und sich die Entscheidungen nicht leicht gemacht hat. Ich habe an Helmut Schmidt seine Kompetenz und Geradlinigkeit geschätzt. Obwohl er nicht immer eine angenehme Kanzlerzeit hatte, ging er die Probleme in seiner eigenen Art an.“
Diese Geradlinigkeit, das Eintreten für die eigenen Überzeugungen, was im damals äußerst umstrittenen NATO-Doppelbeschluss mündete, beendete die Kanzlerschaft Schmidts 1982. Er wurde durch ein konstruktives Misstrauensvotum als Kanzler abgewählt, 1986 schied er schließlich aus dem Bundestag aus. Schmidt war damals 67 Jahre alt, er hätte sich in sein Haus in Hamburg-Langenhorn zurückziehen und das wohlverdiente Rentnerdasein genießen können. Doch das hätte nicht zum Menschen Helmut Schmidt gepasst, der Politik – praktisch mit jedem Zug an seiner Zigarette – atmete. Er übernahm auf andere Weise Verantwortung, zeigte, dass es wichtig ist, sich in politische Debatten einzumischen, selbst wenn man kein offizielles Amt mehr bekleidet. In seiner Büchern, Interviews und öffentlichen Auftritten bezog er Stellung zu wichtigen Themen der jeweiligen Zeit. Auf die SPD, die dennoch zeitlebens seine Partei war, nahm er dabei nicht immer Rücksicht. Doch er verstand es, komplexen Problemen wie dem Klimawandel oder der Eurokrise neue Perspektiven hinzuzufügen, und diese Fähigkeit wurde auch von seiner Partei stets honoriert.
Noch mehr aber in den Teilen der Bevölkerung, die bei Wahlen ihr Kreuz normalerweise nicht bei den Sozialdemokraten machen. Schmidt war vermutlich das perfekte Ebenbild des „Elder Statesmen“, des ehemaligen Spitzenpolitikers, der durch kluges Wirken Debatten konkret vorantreibt und sich dadurch Respekt verschafft, einen Respekt, der frei ist von parteipolitischen Färbungen. Vielleicht kann man somit auch das von Schmidt lernen: Es ist wichtig, sich die eigenen Überzeugungen und Ansichten immer aus differenzierten Blickwinkeln zu bilden, für sie einzutreten und sie dennoch immer wieder kritisch zu hinterfragen. Das gilt dabei nicht nur für Bundes- oder Lokalpolitiker, sondern ist als moralischer Gradmesser für das Leben eines jeden einzelnen Bürgers sinnvoll. Nicht nur die SPD, sondern ganz Deutschland verliert mit Helmut Schmidt einen großen Politiker, Staatsmann und Menschen, der durch sein Lebenswerk dieses Land über Jahrzehnte entscheidend mitgeprägt hat. Und wenn man ihn mit einer einzigen Umschreibung assoziieren will, dann am ehesten mit dieser: Ein Vorbild. Und somit bleibt uns als SPD Stammham am Ende nur noch eines zu sagen: „Viele Dank für alles, Helmut.“
Foto-Copyright: CC BY-SA 3.0 über Wikimedia Commons
Text: Sebastian Binder